Die Parteihochschule der SED -

ein kritischer Rückblick

 

Leseprobe aus

 

Gerhard Fricke

Geschichte und Politik der KPdSU als Lehrfach an der Parteihochschule ‚Karl Marx’

1980 erschien Erich Honeckers "Aus meinem Leben". Darin berichtete er über seine erste direkte Bekanntschaft mit dem Lande Lenins, als er 1930 zum Besuch der Internationalen Lenin-Schule nach Moskau kam. Da dieses Buch heute nicht mehr überall öffentlich oder privat präsent ist, soll hier aus einem uns damals sehr interessierenden Abschnitt zitiert werden. Honecker erinnerte sich, dass er kurze Zeit nach seiner Ankunft in Moskau den Roten Platz aufgesucht hatte, auf dem die großen Demonstrationen und Paraden stattfanden. Er schrieb: "… Aufnahmen vom Mausoleum mit führenden Vertretern des Sowjetlandes auf der Tribüne gingen damals schon um die Welt. J. W. Stalin, neben ihm W. M. Molotow, L. M. Kaganowitsch, M. I. Kalinin, K. J. Woroschilow, S. M. Budjonny, ferner N. I. Bucharin, G. J. Sinowjew, A. I Rykow und L. B. Kamenew - das waren die wichtigsten Namen, die damals für die siegreiche proletarische Revolution standen." An anderer Stelle erwähnte er auch Radek und Preobrashenski. 

Honecker führte vor und nach dem kleinen Wörtchen "ferner" also auch Persönlichkeiten der KPdSU an, die (wenn auch zu verschiedenen Zeitpunkten) als Parteifeinde verdammt worden waren, darunter enge Kampfgefährten Lenins. Aber getreu dem Grundsatz, die Geschichte so darzustellen, wie sie tatsächlich verlaufen war, verschwieg er deren Namen nicht. Wir verstanden das als Aufforderung, diesem Grundsatz in unserem Unterricht strikt zu folgen. Angemerkt sei, dass in der russischen Ausgabe des Buches alle von Honecker in seinem Buch aufgeführten "Unpersonen" getilgt wurden, ohne dass der Moskauer Verlag die Weglassungen durch drei Punkte kennzeichnete, geschweige denn die Zustimmung des Autors zu den Auslassungen einholte; des weiteren sei vermerkt, dass bis 1989 alle Versuche, mit unseren sowjetischen Partnern über die "Unpersonen" jeglicher Couleur ins Gespräch zu kommen, fehlschlugen. Heute dagegen … 

Zugleich bedurfte es nicht der "Aufforderung" durch den Generalsekretär, um auch die im ersten Teil des Zitats aufgeführten Führer der KPdSU in ihrer Zeit entsprechend unserem damaligen Kenntnis- und Erkenntnisstand darzustellen. Trotz der Kritik an Stalin und der "Zurücknahme" der ihm "verliehenen" Attribute und auch in Kenntnis der damals schon bekannten und angeprangerten Untaten wäre es wiederum Geschichtsklitterung gewesen, ihn oder andere ungenannt zu lassen; das hätte den ohnehin reichlich vorhandenen "weißen Flecken" weitere hinzugefügt. Wenn ich über die Größe und Kompliziertheit des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR sprach, habe ich oftmals Stalins Worte aus dem Jahre 1931 zitiert: "Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt." Seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg wurde nach der anfänglichen Lobpreisung weitaus differenzierter gesehen, auch wenn das durch die Vielzahl von herauskommenden Memoiren, die sich teilweise widersprachen, nicht gerade einfacher wurde. 

Die Prozesse und "Säuberungen" ab Mitte der 30er Jahre und deren Folgen wurden in unseren Vorlesungen nicht behandelt, in seminaristischen Veranstaltungen und auch in Konsultationen aber nicht umgangen - vor allem, wenn uns Studenten danach fragten, waren sie doch hin und wieder Zurückgekommenen und "Rehabilitierten" begegnet, die zu ihren Fragen aber geschwiegen hatten.

 Was mich und andere damals erregte und auch heute nach wie vor umtreibt, das war und ist die Frage: Wie und warum konnte es dazu kommen, was waren innen- und außenpolitische, was historische Ursachen? Welche Rolle spielten Traditionen oder Psychologien? Ich verhehle nicht, dass mich auch heutige Erklärungsmuster vielfach nicht befriedigen können. Das zeigt zugleich das Dilemma, vor dem man als Lehrer in unserem "Fach" stand, so, wenn zum Beispiel vom Generalsekretär der Auftrag kam, zum 100. Geburtstag des "Stählernen" 1979 einen Artikel für "Neues Deutschland" mit gebührender Würdigung des Jubilars zu schreiben und die höchste Autorität dann persönlich die Endredaktion vornahm. Ein Artikel zum 110. Geburtstag erledigte sich in den Wirren des Jahres 1989.